Habt ihr schon einmal ein grünblaues Smoothie getrunken? Grünes Brot gegessen, oder blaue Gummibärchen genascht? Dann seid ihr up to date , was das Superfood der Zukunft angeht: Mikroalgen, an deren nachhaltiger Produktion im industriellen Maßstab weltweit Forschungsunternehmen und Algenzüchter arbeiten. Bereits im Jahr 2000 begann eine Algenfarm im kleinen Ort Klötze in Sachsen-Anhalt, mit der Zucht von Mikroalgen, vor allem der Grünalge Chlorella.
Seit fast 20 Jahren arbeitet deren Geschäftsführer Jörg Ullmann mit Algen und insbesondere Mikroalgen. Heute gilt er weltweit als einer der Experten für Algenbiomasse und Mikroalgenzucht in mittlerweile industriellem Maßstab. In einem 500 km langen und geschlossenem Glasröhrensystem wachsen seine Süßwasser-Grünalgen heran, die Ullmann hauptsächlich zu Nahrungsergänzungsmitteln verarbeiten lässt.
Neben Chlorella vulgaris züchtet der Diplom-Biologe, Hobbytaucher und Algen-Kochbuchautor aber auch an einem guten Dutzend weiterer Algen, denn bei „dieser Schatztruhe stehen wir erst am Anfang“, so Ullmann. Inzwischen arbeitet er mit Partner:innen am Aufbau weiterer Algenfarmen. Ein gemeinsames Ziel: Die im industriellen Maßstab geführte Produktion der Blaualge Spirulina als Biomasse.
Kennt man heute eigentlich alle, oder die meisten Algenarten?
Nein - wie gesagt, wir haben eine riesige Schatztruhe vor uns: Weltweit kennt man ca. 47.000 Arten, vermutet aber, dass es 10 Mal mehr sein könnten, die man nur noch nicht entdeckt hat. Momentan arbeitet man mit ca. 100 Algenarten, unter anderem für die Forschung, in der Lebensmittelbranche und als Tierfutter. Die Grünalge Chlorella vulgaris, eine Photosynthese betreibende (Wasser)pflanze und die Blaualge Spirulina, die keine Pflanze, sondern genau genommen ein Cyano-Bakterium ist, sind bis heute die am besten erforschten Mikroalgen. Aber auch über diese beiden kann man noch mehr erfahren, sobald entsprechende innovative Verfahren und Technologien vorhanden sind.
Momentan wird um Algen, speziell Mikroalgen, ein regelrechter Hype betrieben – welche Gründe hat das?
Da gibt es mehrere Gründe, aber der wohl bedeutendste ist das ungeheure Potential von Algen. Vor allem angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung, die mit Proteinen versorgt werden muss, und das bei begrenzten landwirtschaftlichen Nutzflächen. Da bieten sich Algen an, denn man wird kaum ein anderes Lebensmittel finden, das eine solche Dichte an Nährstoffen hat. Deswegen werden sie im Marketing manchmal auch als Superfood bezeichnet.
Welche Nährstoffe haben denn nur Mikroalgen in solch einer Konzentration?
Chlorella-Biomasse hat um die 50 % Proteine, Spirulina mehr als 60 % – das ist mehr als ein Schnitzel oder Ei haben. Chlorella ist die chlorophyllreichste Pflanze der Welt, da wird man [so schnell] auch nichts finden, das mehr Chlorophyll enthält. Außerdem sind Spirulina und Chlorella zwei Lebensmittel, die einen sehr hohen Gehalt an Vitamin B12 haben. Normalerweise findet man einen solchen nur bei tierischen Lebensmitteln, bei pflanzlichen gar nicht. Wir forschen gerade an mehreren Algenarten, die ein für den menschlichen Körper bioverfügbares B-12 produzieren. Im nächsten Schritt wollen wir versuchen dieses zu synthetisieren und irgendwann wollen wir es natürlich auch in größeren Margen herstellen. Lebensmittel lassen sich über Algen gezielt mit Jod oder Vitamin B12 anreichern, beides Mikronährstoffe, die in großen Bevölkerungsgruppen im Mangel sind, übrigens auch hierzulande.
Dann wären diese beiden Mikroalgen doch eine Hilfe bei Mangelernährung?
Absolut. Wir unterstützen daher auch seit 2016 eine kolumbianische NGO, die Fundacion Atlantida, die der Unter- und Mangelernährung von Kindern mit Hilfe von Spirulina entgegenwirken will. Wir haben mit 12 Kindern angefangen, die täglich eine Dosis der Mikroalge bekommen haben und nach 4-6 Wochen hat man bei Kleinkindern beispielsweise Gewichtszunahmen bis zu 30 % feststellen. Über die Auswirkungen der Nahrungsergänzung mit Spirulina wird demnächst eine Studie veröffentlicht. Angesichts weltweiter Mangelernährungen, und nicht nur in Katastrophenfällen, bieten Algen ein riesiges Potential zu deren Eindämmung.
Kommen wir noch einmal auf den aktuellen Hype um Mikroalgen zurück – welche Gründe sind denn noch relevant?
Naja, ein wichtiger Vorteil von Mikroalgen ist, dass sie ca. 10-30 Mal schneller wachsen als Landpflanzen. Und wir können sie ohne Zusatz von Pestiziden und Antibiotika, wie sie in der Tierzucht üblicherweise eingesetzt werden, anbauen. Natürlich spielt auch der technische Fortschritt eine große Rolle: Es gibt die Open-Pond-Technologie, also offene Becken, man kann Mikroalgen aber auch in Photobioreaktoren züchten wie wir es in unserer ersten Anlage in Klötze getan haben. Mikroalgen, die wie bei uns mit reinsten und ständig auf ihre Qualität überprüften Rohstoffen in einem geschlossenen Glasröhrensystem gezüchtet werden, weisen auch keine Spuren von Schwermetallen und weiteren Schadstoffen auf.
Und es gibt Fermenter, die auch ganz ohne Licht auskommen: In Stahltanks zum Beispiel gibt man einer organischen Grundstoffquelle eine Algenstarterkultur hinzu, fügt beispielsweise Dextrose dazu, und dann wachsen die Mikroalgen ähnlich wie Hefe – die Photosynthese wird damit quasi übersprungen. Das hat den Vorteil, dass man 24/7 produzieren kann.Theoretisch wäre es auch möglich, in der Wüste Algen zu züchten – oder im All, wie 2019 auf der ISS: Dort wuchs die Mikroalge Chlorella in einem Photobioreaktor und versorgte die Astronauten mit Frischluft.1
Wie kann man denn überhaupt nachhaltig Mikroalgen züchten?
Die Technologien zur Produktion von Mikroalgen sind noch vergleichsweise neu und damit auch noch teuer. Aber in Sachen Nachhaltigkeit punkten sie schon heute. Schaut man sich den Flächenbedarf oder den Verbrauch von Süßwasser pro Kilogramm produziertem Protein an, so ist man jetzt schon besser als mit der Produktion von Erbse, Soja oder anderen Ackerfrüchten. Spannend wird das Ganze noch einmal, wenn man skalierbare Technologien und Bioraffineriekonzepte für die Nutzung der Biomasse entwickelt, und über die Schließung von Stoffkreisläufen im Rahmen einer Bioökonomie nachdenkt. Daran arbeiten wir und viele andere.
Inwieweit sind Algen denn für die Lebensmittelindustrie interessant, außer als Nahrungsergänzungsmittel?
Einerseits gibt es Algen in Lebensmitteln als so genannte „funktionelle Inhaltstoffe“: das sind Extrakte vor allem aus Rot- und Braunalgen: Agar-Agar, Carrageen oder Alginate, die manchmal auch ganz schlicht als E 407 2 bezeichnet werden, und als Emulgator, Verdickungs-, Gelier-, oder Überzugsmittel schon fast überall drin sind. Es gibt sogar Schätzungen, dass schon in über 70% aller industriell verarbeiteten Lebensmittel solche Extrakte beinhaltet sind: In Dressings, Mayonnaisen, Puddings... . Bei Süßwaren in blauen oder grünen Farben sind in über der Hälfte der Produkte Spirulina- und Chlorella-Extrakte enthalten. Die Mikroalgen lösen synthetische Farbstoffe ab, man setzt heute auf natürliche Lebensmittelzusätze.
Und wie sieht es in der Küche aus - kann jeder Algen-Fan sie zubereiten?
Aber ja ! Der aktuelle Trend zu vegetarischem und vor allem veganen Essen bestärkt die momentane Entwicklung natürlich: Es gibt mittlerweile speziell fermentierte Chlorella, mit der man Butter und Ei in Backwaren ersetzen kann, das könnte für den Megatrend vegane Ernährung natürlich ein Game Changer werden.
Viele Algen bekommt man getrocknet über den Onlineversand oder in Bio- und Naturkostläden, man kann sie als schmackhaftes Gemüse oder Salat zubereiten. Dann gibt es zum Beispiel die Sushi-Alge Nori, die ist sehr vielseitig im Geschmack. In der gehobenen Küche hat man Algen schon länger entdeckt, zum Beispiel in den nördlichen Küsten- und Atlantikregionen von Europa. Außerdem sind heute schon viele Produkte auf dem Markt: grüne Algen-Smoothies, Algen-Limonade – das sind Lebensmittel von deutschen Start-Ups, die wir mit unseren Mikroalgen und Know-How unterstützen.
Welches sind denn ihre Lieblingsalgen?
Puh – also, das kann ich gar nicht so beantworten, ich mag viele Algen. Die Gemüsealge Dulse , eine Rotalge, [zum Beispiel]. Wenn man sie nur leicht frittiert, bekommt sie einen ganz deftigen, fast speck-artigen Geschmack. Das schmeckt auch sehr lecker in ein Kartoffelpüree gemixt. Auch die Nori-Alge ist sehr vielseitig im Geschmack, nicht nur für Sushi, sondern mit Essig und Öl angemacht, richtig schmelzend. Oder die Braunalge Himanthalia aus dem Nordatlantik, Nord- oder Ostsee, aufgrund ihrer Form auch Meeresspaghetti genannt. Sie schmeckt nicht süßlich wie aus asiatischen Ländern, sondern etwas herber. Also, mit Algen lässt sich in der Küche prima experimentieren !
- Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, ISS-Mission horizons mit Alexander Gerst, Photobioreaktor PBR: aus Kohlenstoffdioxid wird Sauerstoff, dlr.de, aufgerufen am 04.10.2023
- E 407 bezieht sich auf Carrageen und wird lebensmitteltechnologisch als Verdickungsmittel bezeichnet.