In Zukunft solidarisch - Gemüse-SoLawi statt Milchviehbetrieb
Die Zukunft

In Zukunft solidarisch - Gemüse-SoLawi statt Milchviehbetrieb

Der Kuhstall ist leer geworden auf dem Tiggeshof, einem Bio-, Erlebnis-, und Lernbauernhof im Sauerland. Die Milchkühe mussten gehen, und damit ist auf dem Hof, wie bei so vielen Höfen in ganz Deutschland, eine Ära zu Ende gegangen. Doch die junge Hofnachfolgerin Marie hat dies als Chance genutzt, um einen lang gehegten Wunsch umzusetzen: Seit Monaten hat sie in ihrer Region für die Gründung einer Gemüse-SoLawi, auf dem Tiggeshof geworben. Heute ist der Tag der Entscheidung.

Marie ist angespannt. Nervös blickt die 30-jährige Jung-Landwirtin in den Saal, in den langsam mehr und mehr Menschen strömen. Alle Anwesenden mussten sich für die heutige Bieter- Versammlung registrieren und wurden mit Wahlzetteln ausgestattet. Gleich wird sich zeigen, ob Marie ihr neues Projekt auf dem Bauernhof ihrer Familie auf Anhieb durchführen kann, oder ob es mehrere Anläufe braucht.

133 Mitglieder:innen der neu gegründeten SoLawi Tiggeshof haben sich vorher verbindlich Anteile reserviert. Daraufhin wurde ein Richtwert für einen durchschnittlich notwendigen Monatsbeitrag ermittelt. Die Gesamtkosten, die bei dieser Bieterrunde erreicht werden müssen, liegen bei rund 100.000 Euro. Jedes Mitglied kann sich an dem Richtwert orientieren und mehr oder weniger als monatlichen Beitrag bieten. Entscheidend ist am Ende, dass die Gesamtsumme gedeckt wird.

Die Abstimmung
Die Abstimmung läuft. Alle Anwesenden mussten sich im Vorfeld für die Bieterversammlung registrieren. (Foto Ute von der Lieth).

In Deutschland gibt es ein Netzwerk Solidarische Landwirtschaft 2 mit vielen nützlichen und hilfreichen Infos zur Gründung und zum Aufbau. Aktuell sind 460 Solidarische Landwirtschaften (SoLawis) in ganz Deutschland gelistet: Die meisten gibt es in Baden-Württemberg (74 SoLawis), dicht gefolgt von Niedersachsen (71) und Bayern (69).3

Die Versammlung geht los

Nach einer kurzen Begrüßung und Einleitung, in der Marie viel über notwendige Veränderungen in der Landwirtschaft spricht und leidenschaftlich für eine regionale statt globale Lebensmittel-Versorgung wirbt, stellt sie noch einmal kurz das Konzept der Gemüse-SoLawi-Tiggeshof vor: Geplant sind zwei 80 Meter lange Gemüsebeete, hauptamtlich von zwei Gärtner:innen gepflegt, aber jede:r kann an „Mitmachtagen“ unter Anleitung aktiv mitarbeiten. Wie die meisten SoLawis will auch diese nach den Grundsätzen des „Market Gardening“ 4 ackern, also auf kleiner Fläche ressourcenschonend, bio-intensiv anbauen und nur mit kleinen Handgeräten anstelle großer Maschinen arbeiten. Zusätzlich werden auch Produkte des Tiggeshof, Eier und Rindfleisch, angeboten.

Marie erläutert detailliert die Kosten, die von Anschaffungen wie Saatgut bis zu Jungpflanzen, über Büroarbeit und Honorare der festangestellten Gärtner:innen reichen. Dies alles summiert sich auf die rund 100.000 Euro, die heute zusammenkommen müssen.

Danach wird es ernst : Marie und ihr Organisations-Team haben farblich sortierte Anträge für verschiedene Ernteboxen ausgeteilt: Zur Auswahl stehen reine Gemüseboxen oder Boxen mit zusätzlich Eiern- oder/und Rindfleisch vom Tiggeshof. Und dann heißt es: warten – und rechnen. Für Marie der Moment, auf den sie und ihr Team Monate hingearbeitet haben, und auf den es jetzt ankommt: Reicht diese eine Bieterrunde, oder müssen mehrere Abstimmungen geplant werden, bis die notwendige Summe zustande kommt?

Ein Blick zurück 

Schon in ihrem Landwirtschaftsstudium hat Marie sich für die gemeinschaftliche und sozial orientierte Bewirtschaftungsart der SoLaWis interessiert. Nachdem sie ein Seminar dazu belegt hatte, wusste sie: So etwas will sie irgendwann auf dem Tiggeshof umsetzen. Spätestens dann, wenn sie mit der Milchviehwirtschaft aufhören würden. Und das kam schneller als gedacht:

Seit 1371 gibt es den Tiggeshof, auf dem Milchkühe immer ein Kerngeschäft waren. In den Hochphasen hatten sie über 100 Kühe, erzählt Marie´s Vater Rudolf Tigges, und führt mich über den Hof. Neben den Milchkühen halten sie auch Wagyu- und Angusrinder für die Direktvermarktung im Hofladen. Aber der 1996 fertig gestellte Kuhstall und die Melkanlage müssten heute grundlegend saniert oder durch einen Neubau ersetzt werden; eine halbe Million hätte die Familie investieren müssen.

Dann bekamen sie auch die ersten Auswirkungen des Klimawandels zu spüren: „Die Milchviehhaltung hat sich völlig verändert, früher war Weidehaltung das Ding schlechthin bei uns auf dem Betrieb“, erzählt Rudolf Tigges. „Doch die letzten fünf Jahre hatten wir überhaupt keine richtige Weidehaltung mehr, weil nix mehr da war. Im Sommer haben wir angefangen, die volle Ration Heu zu füttern“!

Bei zu geringem Niederschlag trocknen einige Futterweiden vom Tiggeshof aufgrund ihrer Hanglange sehr schnell aus. Das, was dann noch wächst, reicht für die Milchkühe nicht aus, während die Mastrinder und Angus-Jungbullen, um die sich vor allem Rudolf Tigges kümmert, mit dem wenigen Gras bis Anfang November auf der Weide bestens klarkommen.

Irgendwann kam die Familie Tigges zu dem Entschluss, die Milchviehwirtschaft langfristig einzustellen. Nur wann dieser Zeitpunkt sein sollte, das ließen sie sich offen. – Bis zum Sommer 2022. Extreme Trockenheit und sprunghaft steigende Produktionskosten führten dazu, dass kein Geld mehr für dringend benötigtes Futter für die Milchkühe da war. Und so mussten die letzten Kühe in diesem Sommer gehen. „Es war bitter“, erzählt Marie, aber mit diesem Schritt hat die ganze Familie nicht nur mehr Zeit für sich gewonnen – „das ist auch Lebensqualität“, betont Rudolf Tigges - , sondern es ist nun auch Platz für etwas Neues : Maries SoLawi.

Melkstall
Der leere Melkstall auf dem Tiggeshof. (Foto Ute von der Lieth).

Wie gründet man eine SoLawi?

1. Kernteam organisieren:

Als erstes, so Marie, sollte man sich dringend eine unterstützende Kerngruppe mit Mitgliedern aus unterschiedlichen Bereichen zusammenstellen: Das fängt zum Beispiel beim Webdesign an, und geht über Grafik, Finanzen bis hin zum Gartenbau – je vielfältiger die Kompetenzen der Kerngruppe sind, desto größer der Input für die Aufbauplanung. „Es ist soviel Arbeit am Anfang, das unterschätzt man leicht und kann es alleine auch unmöglich schaffen“, stellt Marie klar. „Wir haben so oft Pläne geschmiedet und sie beim nächsten Treffen wieder verworfen, weil irgendetwas dann doch nicht funktionieren würde“.

2. Startfinanzierung über Crowdfunding:

Für die Startfinanzierung hat Marie mit ihrem Team ein Crowdfunding über eine Crowdfundingplattform 5 organisiert und dabei ca. 400 Unterstützer:innen gefunden. Viele, könnte man meinen, aber es reicht nicht. Deshalb sind sie darüber hinaus auf der Suche nach Firmen und Organisationen, die sich an der SoLawi Tiggeshof beteiligen würden: wie z.B. die Stadtwerke, die sich um die Wasser- und Energieversorgung kümmern, und im Gegenzug eine nachhaltige Installation entwickeln könnten, die Modellcharakter besäße. „Bevor man loslegt“, meint Marie mit Nachdruck, „sollte man sich auf jeden Fall ein paar SoLawis vor Ort angucken“. Das hat sie zusammen mit ihren Eltern gemacht, wobei besonders Vater Rudolf anfangs skeptisch war. Doch heute schätzt er an dem Modell vor allem, „dass das Risiko auf mehreren Schultern verteilt ist“ – statt auf einer Familie alleine.

3. Umwandlung von Grünland in Ackerboden:

Bevor, wie bei Familie Tigges der Fall, Grünland zu einer Ackerfläche umgebrochen werden soll, muss ein Gutachter für eine Bodenanalyse bestellt werden, um die Fläche auf seltene und geschützte Pflanzen oder Tiere zu untersuchen6. Weil Grünlandflächen eine große Bedeutung für den Artenschutz und den Erhalt der Artenvielfalt haben, und pro Hektar mit 181 Tonnen ein enormer Anteil zum Boden- und Klimaschutz aufweisen, sind Dauergrünlandflächen staatlich geschützt und dürfen nicht einfach so zur Ackerfläche umgewandelt werden.

Wer ist dabei ?

Während die Auszählung noch auf Hochtouren läuft, will ich wissen, was die Anwesenden bewegt, und warum sie sich der SoLawi angeschlossen haben. Es ist ein Querschnitt aus allen Berufs- und Altersgruppen, der sich hier versammelt hat.

„Das ganze Projekt und die Lebensmittel, das ist etwas, dem man wirklich vertrauen kann. Und das gibt’s ja nicht mehr so häufig heutzutage“ (Chantalle, 34 Jahre, Bürokauffrau und Buchhändlerin).

„Ich glaube schon, dass wir die Lebensmittel dann auch anders wertschätzen, wenn wir selbst ab und zu mal mithelfen“ (Thomas, 55 Jahre, Bauingenieur).

„Ich finde den Gedanken einer solidarischen Gemeinschaft gut, weil es vielleicht dazu beiträgt, dass man weniger Obst und Gemüse beim Discounter einkauft und das unterstütze ich gerne“ (Christian, technischer Angestellter, 49 Jahre).

„Ich möchte Gemüse aus heimischen Anbau haben, weil es frisch ist, nicht transportiert wird, es ist der ökologische Gedanke dahinter“ (anonym).

Das Ergebnis steht fest

Das Ergebnis steht fest und Marie schnappt sich das Mikrofon. Im Saal wird es schlagartig ruhig. Vater Rudolf steht angespannt am Rand. Noch eine Stunde zuvor war er jedoch sehr optimistisch und zuversichtlich: “das wird schon klappen !“ Marie strahlt, als sie zu sprechen beginnt: „Ich freue mich sehr, es hat geklappt, wir haben die Summe erreicht, und das gleich beim ersten Mal !“. „Sogar ein Überschuss von über 2 Euro“, wirft Maries Mutter Ursula aus dem Hintergrund ein. Alle klatschen, die Freude ist überall spürbar, und gleichzeitig herrscht bei Marie und ihrem Kernteam auch eine übergroße Erleichterung. Noch eine Stunde lang wird Organisatorisches besprochen und alle Mitglieder:innen müssen ihre Verträge abgeben, aber der wichtigste Meilenstein ist geschafft: Noch in diesem Jahr will Marie mit ihrem Kernteam loslegen.

Wie geht es nun weiter?

Damit im Frühjahr ausgesät werden kann, will Marie so schnell wie möglich noch in diesem Jahr auf der ausgesuchten Fläche zwei Folientunnel anlegen. Ideen haben sie und ihr Kernteam viele, „aber zuerst müssen wir erstmal liefern. Das heißt, so wirtschaften, dass wir auch für alle Mitglieder die Kisten voll bekommen. Für den monatlichen Beitrag erhält jedes Mitglied für ca. 35 oder mehr Wochen im Jahr jede Woche frisch geerntetes Gemüse. Neben dem Tiggeshof gibt es sieben weitere Abholstationen, alle im Umkreis von maximal 12 Kilometern.

Im nächsten Jahr können wir dann hoffentlich auch mehr experimentieren“, meint Marie. Die Gärtnerin hat bereits einen Anbauplan für die Fläche erstellt, und danach werden sie die Pflanzen und Bio-Kompost für den Humusaufbau bestellen. Die Begeisterung und den Elan für dieses Projekt spürt man bei Marie mit jedem Satz: „Wir wollen auf jeden Fall seltene, bzw. alte Sorten anbauen, wie z.B. lila Basilikum oder schwarze Tomaten. Oder ein großes Kräuterbeet anlegen, wo sich alle frische Kräuter schneiden können. Und unsere Gärtner:innen möchten am liebsten mit eigenem Saatgut und Jungpflanzen experimentieren“, erzählt Marie.

Doch nachdem die letzten SoLawi-Mitglieder:innen den Saal verlassen haben, lässt Marie erst einmal die Sektkorken knallen und bedankt sich überschwänglich bei ihrem Kernteam, zu dem auch ihre beiden Eltern zählen.

Auf dem Tiggeshof bricht ab jetzt eine neue Ära an.


Anmerkung der Redaktion: Die Bieterversammlung fand im Herbst 2022 statt. Seit Anfang 2023 wird die SoLawi auf dem Tiggeshof umgesetzt.

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