Kulturpflanzenvielfalt vergrößern: Alte Sorten und wilde Verwandte

Kulturpflanzenvielfalt vergrößern: Alte Sorten und wilde Verwandte

Alte Sorten und wilde Verwandte unserer Kulturpflanzen sorgen für größere Sortenvielfalt und sind wichtig für ein widerstandsfähiges und nachhaltiges Nahrungsmittelsystem.

Wissenschaftler*innen schätzen, dass es zwischen 200.000 und 300.000 essbare Pflanzenarten gibt. 1 Doch nur ein Bruchteil dieser Vielfalt landet auf unseren Tellern und nur etwa 30 Pflanzenarten decken rund 90% des menschlichen Kalorienbedarfs. 2

Vor etwa 10.000 Jahren begannen Menschen erstmals Pflanzen zu domestizieren. 3 Durch den gezielten Anbau bestimmter Pflanzenarten entwickelten sich unsere Kulturpflanzen. Nur Sorten, die an lokalen Bedingungen und die Bedürfnisse der Menschen angepasst waren, wurden weiter angebaut und vermehrt. So ist im Laufe der Jahrtausende weltweit eine große Kulturpflanzenvielfalt entstanden. 4

Bedrohte Vielfalt:

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es auch in Deutschland eine große lokale und samenfeste* Saatgutvielfalt. Saatgut wurde unter Bäuer*innen und Gärtner*innen weitergegeben, getauscht und auf diese Weise erhalten. 5 

Samenfeste Sorten sind nachbaufähig. Das bedeutet, dass wenn man Pflanzen über Saatgut vermehrt, die Pflanze in der nächsten Generation die gleichen Eigenschaften hat wie die Mutterpflanze. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Saatgut mit F1 Kennzeichnung um Hybridzüchtungen. Die Pflanzen in der nächsten Generation unterscheiden sich unter Umständen stark von der Mutterpflanze und besitzen möglicherweise nicht die gewünschten Eigenschaften der Mutterpflanze. F1 Saatgut ist also praktisch nicht nachbaufähig.

Doch ein großer Teil dieses Reichtums ist mit der Einführung strengerer Saatgutgesetze und der Industrialisierung des Nahrungsmittelsystems verloren gegangen. Für den kommerziellen Anbau mussten Sorten nun registriert werden. Ein einfaches Weitergeben und Tauschen von Saatgut war somit nicht mehr möglich und mit der zunehmenden Industrialisierung rückten hohe Erträge, Standardisierung und Uniformität in den Vordergrund. 5 Vielfalt und Geschmack spielten nur eine untergeordnete Rolle. 

Eine Tomatensorte, wie die „Berner Rose“ etwa, die zwar gut schmeckt, aber aufgrund ihrer dünnen Schale schlecht zu transportieren ist, war für das industrialisierte Nahrungsmittelsystem ungeeignet und musste neuen Sorten weichen.4 Infolgedessen wurden viele Sorten nicht mehr angebaut und sind für immer verloren gegangen. 2, 5

In einer Datenbank der deutschen Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) finden sich Informationen zu ca. 7.000 alten Sorten, die in den letzten 150 Jahren in Deutschland angebaut wurden. Heute gelten rund 75% dieser Sorten als verschollen. 6 

Mit dem Verlust dieser Sorten sind auch genetische Vielfalt und spezielle Sorteneigenschaften für immer verloren gegangen. 

2.606 Sorten und Arten befinden sich außerdem auf der Roten Liste der BLE für bedrohten Sorten (Stand 2021). 7 Sie besitzen keine Sortenzulassung mehr und ihr Saatgut ist nur über Genbanken und/oder Saatgutinitiativen verfügbar. 6

Eine der größten Genbanken weltweit befindet sich übrigens in Sachsen-Anhalt in Deutschland. Hier lagert das Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzensorten bei -18 Grand mehr als 150.000 Pflanzenmuster aus rund 3.000 Gattungen. 8

Sortenvielfalt und Klimawandelanpassung:

Die Auswirkungen des Klimawandels stellen unser Nahrungsmittelsystem auf die Probe. Durch den Klimawandel steigen die Temperaturen und das Wetter wird unberechenbarer.9 Häufige Dürreperioden, extreme Hitze, aber auch später Frost oder Starkregen sind für die Landwirtschaft eine große Herausforderung und gefährden die Ernährungssicherheit. Hinzu kommen Schädlingsbefall und Krankheiten, die durch den Klimawandel begünstigt werden könnten, da der Klimawandel die natürliche Regulierung von Schädlingen und Krankheiten aus dem Gleichgewicht bringt. Viele moderne Kultursorten sind diesen Herausforderungen nicht gewachsen.9

Doch es gibt auch unter Pflanzen echte Überlebenskünstler. Manche Sorten sind gegen bestimmte Schädlinge und Krankheiten resistent und kommen auch mit extremen Wetterbedingungen zurecht. Es gibt Sorten, die einen niedrigen Wasserbedarf haben und auch extremer Hitze trotzen. Augenbohnen beispielsweise sind gut an Trockenheit angepasst. Haben sie erst einmal Wurzeln gebildet, reichen ihnen  bereits 300 mm Regen im Jahr. Chia ist ebenfalls äußerst tolerant gegenüber Trockenheit. Einst weit verbreitet bei den Azteken, erfreut sich die Pflanze mittlerweile wieder wachsender Beliebtheit bei Kleinbauern in Lateinamerika. 10 

Andere Pflanzen kommen wiederum mit Minusgraden gut zurecht. Insbesondere Kohlsorten sind häufig winterhart und viele Sorten, halten auch eisigen Temperaturen problemlos stand. Der Wirsing „Winterfürst“, die Grünkohlsorte „Lerchenzunge“ oder der Porree „Blaugrüner Winter“ sind nur ein paar Beispiele für echte Winter-Überlebenskünstler. 11 

Eine große Sortenvielfalt sorgt daher für ein widerstandsfähiges und nachhaltiges Nahrungsmittelsystem – enorm wichtig für die Klimawandelanpassung.

Das Comeback alter Sorten:

Alte, vergessene und vernachlässigte Sorten können wieder Vielfalt in den Genpool unserer Kulturpflanzen bringen. Viele alte Sorten zeichnen sich durch besondere Eigenschaften aus. Durch fortwährende Auslese sind sie optimal an lokale Bedingungen angepasst und oft robuster als ihre modernen Nachfahren. 4

Bei Bedarf können Eigenschaften alter Sorten in moderne Sorten eingekreuzt werden. So entstehen neue Sorten, die besser mit den Auswirkungen des Klimawandels zurechtkommen. Obwohl die meisten alten Sorten heute nicht mehr vermarktungsfähig sind, ist ihre Erhaltung extrem wichtig. Denn sie sind letztendlich die genetische Reserve unserer Kulturpflanzen und wichtig für die Ernährungssicherheit zukünftiger Generationen. 4 

Viele alte Sorten haben einen vorzüglichen Geschmack und sind manchmal sogar gesünder als ihre modernen Nachfahren. 4

Die Zuckererbse „Dickmadam“ zum Beispiel ist knackig und hat einen überraschenden bittersüßen Nachgeschmack – ganz anders als die Erbsen, die wir aus dem Supermarkt kennen. 8 Das Urgetreide Emmer besitzt wiederum einen angenehm würzigen Geschmack und enthält außerdem viel Eiweiß. Emmer ist somit nicht nur aus kulinarischer, sondern auch aus gesundheitlicher Sicht eine interessante Alternative zum modernen Weizen. 4 

Obwohl ihre Vermarktung oft schwierig ist, werden alte Sorten aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften wieder mehr geschätzt. Nicht nur in Deutschland erleben sie zumindest ein kleines Comeback. 

Wer sich für alte Sorten interessiert, sollte auf Wochenmärkten mit regionalen Anbietern die Augen offen halten.  Denn dort sieht man sie wieder: lilafarbene Möhren, getigerte Tomaten, oder gelbe Bete. 4 Auf dem Teller sind solche Sorten außerdem ein echter Hingucker. 

Wilde Verwandte:

Neben alten Sorten können auch wilde, natürlich wachsende Verwandte unserer Kulturpflanzen, bei denen der Mensch nicht direkt in die Entwicklung eingegriffen hat, die Vielfalt erhöhen.12  Denn auch wilde Sorten besitzen bemerkenswerte Eigenschaften, die Züchter in moderne Kulturpflanzen einkreuzen können um so neue Sorten zu züchten. 13 

In Neu-Mexiko und Texas gibt es zum Beispiel eine wilde Sonnenblumenart, die sich durch ihre Toleranz für Salzwasser auszeichnet. Diese Eigenschaft könnte in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, denn der Klimawandel sorgt insbesondere in trockenen Gebieten für einen Anstieg des Salzgehalts im Boden. 13, 14

In Australien fanden Forscher*innen gleich eine ganze Reihe wilder Verwandte von Sorghum. Wilder Sorghum ist enorm robust, widerstandsfähig und kann auch extreme Trockenheit und Hitze aushalten. Doch gut die Hälfte der wilden Sorghum-Arten sind bereits gefährdet. 15

Wilde Verwandte unserer Kulturpflanzen können unser Nahrungsmittelsystem widerstandsfähiger machen. Doch viele dieser Pflanzen sind durch den Verlust ihrer Lebensräume bedroht. Ihr Vorkommen ist außerdem nur schlecht dokumentiert und nur wenige wilde Sorten sind geschützt.10, 15 

Eine große Kulturpflanzenvielfalt ist die Basis für ein nachhaltiges und widerstandsfähiges Nahrungsmittelsystem. Doch nur, wenn wir wilde Sorten und Kulturpflanzen schützen, können wir die Ernährungssicherheit zukünftiger Generationen sicherstellen.

Wirst du in Zukunft öfter mal nach alten Sorten Ausschau halten?

Hinweise
  1. Dunn (1989, 1993). „Exploring Your World: The Adventure of Geography“. National Geographic Society.
  2. Bundesinformationszentrum Landwirtschaft (2021). „Kulturpflanzen - Vielfalt erhalten“. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE). Abgerufen 12. Oktober 2021.
  3. Das Grüne Telefon (2020). „Wenn alte Sorten wieder wachsen und begeistern“. Mainau GmbH. Abgerufen 12. Oktober 2021.
  4. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) (2021). „Historische Beschreibungen alter Gemüsesorten“. Abgerufen 12. Oktober 2021.
  5. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) (2021). „Die Rote Liste der gefährdeten einheimischen Nutzpflanzen Deutschlands“. Abgerufen 12. Oktober 2021.
  6. Telser (2020). „Alte Sorten haben ein gutes Image: Warum vergessene Gemüsesorten ein Comeback im Biomarkt erleben könnten“. Business Insider. Abgerufen 12. Oktober 2021.
  7. Cameron (2015). „Klimawandel: Was er für die Landwirtschaft bedeutet“. Klimafakten.de. Abgerufen 08. November 2021.
  8. Moloney (2017). „Factbox - From new beans to ancient plants, drought-busting crops take root“. Thomson Reuters Foundation. Abgerufen 08. November 2021.
  9. Bingenheimer Saatgut. „Gemüse“. Abgerufen 08. November 2021.
  10. NABU. „Wilde Vorfahren – Was sind Wildpflanzen und warum sind sie wichtig?“ Abgerufen 12. Oktober 2021.
  11. Alliance Bioversity International and CIAT (2020). „America’s crop cousins are numerous, imperiled, and more needed than ever“. CGIAR. Abgerufen 12. Oktober 2021.
  12. Corwin (2020). „Climate change impacts on soil salinity in agricultural areas“. European Journal of Soil Science. Abgerufen 08. November 2021.
  13. Alliance Bioversity International and CIAT (2020). „Surprising trove of sorghum diversity discovered in Australia — but it’s disappearing fast“. CGIAR. Abgerufen 12. Oktober 2021.
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